Der Palais Bourbon ist ein bedeutendes historisches Gebäude — vor allem aber Symbol der Institution des Parlaments sowie Ausdruck einer lebendigen französischen Demokratie. In der Öffentlichkeit wird zumeist nur das Bild des Abgeordneten im Plenarsaal wahrgenommen. Die parlamentarische Arbeit hinter den Kulissen kennen jedoch nur die wenigsten.
Die Abgeordneten, die von allen Franzosen direkt gewählt werden, bilden die französische Nationalversammlung, die Assemblée nationale. Sie beraten und verabschieden Gesetze, kontrollieren und evaluieren die Politik der Regierung. Die Legislative besteht aus zwei Kammern: der Assemblée nationale und dem Senat, die gemeinsam über die Gesetzgebung beraten. Wenn beide sich über ein Gesetz nicht einigen können, hat die Nationalversammlung das letzte Wort. Sie allein besitzt das Recht der Regierung, das Misstrauen auszusprechen und damit ihren Rücktritt zu fordern. Gleichzeitig kann das Parlament vom Staatspräsidenten aufgelöst werden.
Die Abgeordneten
Die Nationalversammlung setzt sich aus 577 Abgeordneten zusammen, die für fünf Jahre gewählt sind. Seit Juni 2012 (XIV. Legislaturperiode) werden elf Abgeordnete von den französischen Staatsbürgern gewählt, die außerhalb Frankreichs leben. Die Abgeordneten sind Repräsentanten des Staates, vertreten aber gleichzeitig lokale Wahlkreise. Sie sind Mittler zwischen dem Parlament und Bürgern, die einen Teil ihrer Souveränität sowie politische Verantwortung auf sie übertragen haben.
Obwohl das Parlament zweiundfünfzig Wochen im Jahr arbeitet, werden öffentliche Sitzungen nur während der offiziellen Sitzungszeit abgehalten. Die Verfassung sieht eine neunmonatige Sitzungsperiode vor. Sie beginnt Anfang Oktober und endet mit dem letzten Wochentag im Juni. Außerhalb dieses Zeitraumes kann der Staatspräsident das Parlament zu außerordentlichen Sitzungen einberufen. Oftmals arbeitet das Parlament bis Ende Juli und kommt bereits im September erneut zusammen.
Die Arbeit im Plenum stellt nicht den größten Teil der Arbeit eines Abgeordneten dar. Jeder Abgeordnete ist Mitglied eines der acht ständigen Ausschüsse, in dem die Gesetze beraten werden. Darüber hinaus können die Abgeordneten Mitglied eines Untersuchungsausschusses und einer Enquête-Kommission werden oder sich im Rahmen einer parlamentarischen Delegation oder einer Arbeitsgruppe mit einem spezifischen Thema beschäftigen.
Die Abgeordneten arbeiten innerhalb ihrer politischen Gruppen, Fraktionen genannt, mit anderen Abgeordneten zusammen. Ferner können sie die Nationalversammlung in öffentlichen Institutionen oder internationalen Organisationen (wie dem Europarat oder der Parlamentarischen Versammlung der Frankophonie) vertreten. Bei einer Verfassungsänderung oder einer Ansprache des Staatspräsidenten kommen beide Kammern gemäβ Artikel 18 der Verfassung als so genannter „Kongress“ in Versailles zusammen.
Organisation der Nationalversammlung
Der Präsident der Nationalversammlung wird zu Beginn jeder Legislaturperiode in geheimer Abstimmung gewählt. Er repräsentiert die Nationalversammlung und leitet die parlamentarischen Debatten. Darüber hinaus hat der Präsident weitere Aufgaben: er berät sich mit dem Staatspräsidenten für den Fall, dass die Nationalversammlung aufgelöst wird oder wenn bei einem nationalen Notstand außerordentliche Vollmachten gemäß Artikel 16 der Verfassung ausgeübt werden. Er ernennt zudem drei der neun Richter des Verfassungsrates (Conseil constitutionnel), der mit der Prüfung der Verfassungskonformität von Gesetzen und internationalen Verträgen beauftragt ist. Der Parlamentspräsident bestimmt auch die Mitglieder unabhängiger administrativer Behörden. Protokollarisch steht er an vierter Stelle des französischen Staates.
Der Präsident leitet das Präsidium, das über die Organisation und Arbeitsweise der Nationalversammlung entscheidet. Neben dem Präsidenten besteht es aus sechs Vizepräsidenten, die den Präsidenten während der Plenarsitzungen vertreten können. Auβerdem gehören dem Gremium drei so genannte Quästoren an, die als Mitglieder der Nationalversammlung für das finanzielle und interne Management der Nationalversammlung zuständig sind. Weitere Mitglieder des Gremiums sind zwölf Sekretäre, die ebenfalls Abgeordnete sind und deren wichtigste Aufgabe es ist, den Präsidenten bei der Auszählung der Stimmen von Abstimmungen zu unterstützen.
Zu Beginn der Legislaturperiode schließen sich die Abgeordneten entsprechend ihrer politischen Orientierung zu Fraktionen zusammen. Die Fraktion entscheidet darüber, wer ins Präsidium und in die einzelnen Ausschüsse berufen wird. Der Fraktionsvorsitzende hat besondere Befugnisse: er kann beispielsweise den Antrag stellen, eine öffentliche Abstimmung durchführen oder die Beschlussfähigkeit des Parlaments überprüfen zu lassen.
Ein weiteres wichtiges Gremium ist die Konferenz der Präsidenten. Sie besteht aus dem Präsidenten der Nationalversammlung, den sechs Vizepräsidenten, den Ausschussvorsitzenden, dem/der Vorsitzenden des Finanzausschusses, dem/der Vorsitzenden des Ausschusses für Europäische Angelegenheiten und den Fraktionsvorsitzenden. Die Regierung wird regelmäßig durch einen Minister vertreten, der speziell für die Beziehungen zum Parlament verantwortlich ist.
Das Gremium tagt einmal wöchentlich zu Beginn der Sitzungswoche. Dabei wird die Tagesordnung der Nationalversammlung festgelegt. Seit der Verfassungsreform 2008 werden zwei Wochen pro Monat die von der Regierung eingebrachten Gesetzesinitiativen beraten. Die dritte Sitzungswoche ist für Initiativen aus den Reihen des Parlaments reserviert, während eine weitere Woche vor allem für die Kontrolle der Regierungsarbeit vorgesehen ist.
Gesetzgebungsverfahren
In einer Demokratie bestimmt das Gesetz die wichtigsten Regeln und Vorschriften des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Freiheitsrechte, Staatsbürgerschaft, Eigentumsrecht, Wahlen...). Von einigen Ausnahmen abgesehen, in denen ein Gesetz per Volksentscheid angenommen wird, verabschiedet das Parlament die Gesetze. Internationale Verträge werden vom Staatspräsidenten ratifiziert.
Die Regierung kann Steuern erheben und die Ausgaben des Staates festlegen. Dazu präsentiert sie einmal jährlich ihr Budget, das in Form eines Finanz- oder Haushaltsgesetzes verabschiedet wird.
Gesetzesinitiativen können entweder von den Abgeordneten als Gesetzesvorlage („proposition de loi“) oder von Regierungsmitgliedern als Gesetzesentwurf („projet de loi“) eingebracht werden. Analog dazu können Änderungsantrage (amendements), also Vorschläge zur Modifizierung aktuell debattierter Gesetzesentwürfe, entweder von Regierungsseite oder aus den Reihen des Parlaments vorgelegt werden. Die Regierung kann in beiden Parlamenten ihre Änderungsanträge einbringen. Ausgenommen davon sind die Entwürfe für die Haushaltsgesetze oder zur Finanzierung der Sozialversicherung. Diese müssen zuerst der Nationalversammlung vorgelegt werden.
Sobald die Gesetzesentwürfe eingebracht worden sind, werden sie den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zugeleitet. Andere Ausschüsse können die Gesetzestexte zur Mitberatung erhalten. Der federführende Ausschuss ernennt für jedes Gesetz einen Berichterstatter, den sogenannten „rapporteur“. Er hat die Aufgabe, zu dem Gesetz einen Bericht zu erstellen. Dieser enthält neben der aktuellen Darstellung der Fragestellung eine Auswertung des Gesetzesentwurfes und Änderungsvorschläge des Berichterstatters. Um zusätzliche Informationen zu erhalten, kann der Ausschuss eine Anhörung mit Regierungsmitgliedern oder Experten durchführen. Danach wird der Bericht auf der Webseite der Nationalversammlung veröffentlicht.
Seit der Reform 2008 erfolgt die Debatte eines Gesetzesentwurfes während der Plenarsitzung auf der Grundlage des im Ausschuss angenommen Textes. Früher wurde dort der Gesetzentwurf der Regierung debattiert. Von dieser Regelung ausgenommen sind Gesetze zur Änderung der Verfassung oder zur Finanzierung des Sozialversicherungs sowie die Haushaltsgesetze.
Die öffentliche Debatte eines Gesetzes findet statt sobald ein Text auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt wurde. Dabei nehmen das zuständige Regierungsmitglied, der Berichterstatter sowie die Abgeordneten entweder individuell oder im Namen ihrer Fraktionen zum Gesetzestext Stellung. Das Plenum debattiert darüber und stimmt Artikel für Artikel ab, einschlieβlich der dazu gestellten Änderungsanträge. Nachdem die einzelnen Artikel und Änderungsanträge beraten worden sind, stimmt das Parlament über das gesamte Gesetz ab. Die Fraktionen können sich vor der Abstimmung nochmals zu Wort melden, um ihrer Position Nachdruck zu verleihen.
Ein Gesetzestext kann jedoch nur verabschiedet werden kann, wenn er von beiden Kammern (Nationalversammlung und Senat) angenommen worden ist. Sobald eine der beiden Kammern über einen Text abgestimmt hat, wird dieser unmittelbar der anderen Kammer zugestellt. Dies wird als sogenanntes „Pendelverfahren“ (navette) bezeichnet. Erfolgt keine Einigung kann von der Regierung ein Gemeinsamer Ausschuss, eingesetzt werden. Er setzt sich aus sieben Abgeordneten der Assemblée nationale und sieben Senatoren zusammen. Sein Ziel ist es, in umstrittenen Punkten eines Gesetzes einen Kompromiss zu erlangen. Falls sich der Ausschuss nicht auf einen gemeinsamen Text einigt, kann die Regierung der Nationalversammlung das letzte Wort geben.
Nachdem ein verabschiedetes Gesetz vom Verfassungsrat (Conseil d’État) auf seine Verfassungsmäßigkeit hin überprüft wurde, wird es vom Staatspräsidenten verkündet und im Gesetzsblatt („Journal Officiel“) veröffentlicht. Seit der Verfassungsänderung im Jahr 2008 können die beiden Kammern gemäβ Artikel 34, Absatz 1 auch Entschließungen („résolutions“) verabschieden.
Kontrolle der Regierung
Die Kontrolle der Regierung ist eine der zentralen Aufgaben des Parlaments. Abgeordnete können Minister befragen - entweder in schriftlicher oder mündlicher Form - und das Parlament kann Untersuchungsausschüsse einsetzen.
Wenn französische Streitkräfte im Ausland eingesetzt werden sollen, muss die Regierung das Parlament seit der Verfassungsreform von 2008 innerhalb von drei Tagen darüber informieren und die Ziele des Einsatzes darlegen. Überschreitet der Einsatz einen Zeitraum von vier Monaten, muss die Regierung einen Antrag auf Verlängerung des Mandates stellen und die Zustimmung der Nationalversammlung einholen. Die Regierung kann die Nationalversammlung ersuchen, in letzter Instanz zu entscheiden. Die Regierung ist dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig. Gemäß Artikel 35 der Verfassung muss das Parlament im Falle einer Kriegerklärung seine Zustimmung geben.
Der Premierminister kann das Parlament bitten, ihm hinsichtlich seines Programms oder einer allgemeinen Regierungserklärung das Vertrauen auszusprechen. Nach der Rede des Premierministers erfolgt eine Aussprache, an der alle Abgeordneten der verschiedenen politischen Parteien teilnehmen können. Über das Programm oder die Erklärung wird anschließend öffentlich abgestimmt. Erhält der Premierminister eine Mehrheit der Stimmen, ist das Programm oder die entsprechende Erklärung angenommen.
Die Nationalversammlung kann die Regierung im Gegenzug zum Rücktritt zwingen, indem sie einen Misstrauensantrag stellt. Der Antrag für ein Misstrauensvotum muss von mindestens einem Zehntel der Abgeordneten unterzeichnet werden. Im Anschluss an die Aussprache wird darüber abgestimmt. Gezählt werden dabei nur die Stimmen der Abgeordneten, die dem Misstrauensantrag zugestimmt haben. Das Misstrauensvotum ist angenommen, wenn die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder der Nationalversammlung, 289 Stimmen von 577, erreicht worden ist
Der Premierminister kann nach Artikel 49, Absatz 3 der Verfassung auch innerhalb seiner eigenen Regierung die Vertrauensfrage stellen. Die Verfassungsreform von Juli 2008 hat die frühere Anwendung von Artikel 49, Absatz 3, bei dem der Grundsatz „alles oder nichts“ galt, stark eingeschränkt: die Vertrauensfrage kann in der Regel nur noch bei der Abstimmung über Haushaltsgesetzesentwürfe oder Entwürfe zum Haushalt und zur Finanzierung der Sozialversicherung gestellt werden. Einmal pro Sitzungsperiode kann der Premierminister auf dieses Verfahren auch bei einem anderen Gesetzentwurf oder Gesetzesvorschlag zurückgreifen. Wird ihm nicht das Vertrauen ausgesprochen (dies ist seit 1958 nur einmal vorgefallen) oder sein Regierungsprogramm abgelehnt, muss der Premierminister beim Staatspräsidenten den Rücktritt seiner Regierung einreichen.